Sind radioaktive Objektive gefährlich?
Egal, ob Schule, Ausbildung oder Studium – man lernt immer fürs Leben. Zwei Dinge sind mir dabei besonders in Erinnerung geblieben, die für den Mythos radioaktiver Objektive essenziell sind.
Zum einen ist es der berühmte Satz von Paracelsus, die wir schon gleich zu Anfang des Medizin-Studiums gelernt haben: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift, allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist.“ (aus Sieben Defensiones und Labyrinthus medicorum errantium (1538)).
Zum anderen sollte jede:r Fotograf:in mit dem photometrischen Entfernungsgesetz vertraut sein, das besagt, dass die Beleuchtungsstärke mit Quadrat der Entfernung zwischen Lichtquelle und beleuchtender Fläche abnimmt.
Ich betone das deswegen so stark, weil das Nichtbeachten dieser Dinge und die fehlende Einordnung bestimmter Messwerte dazu geführt zu haben scheinen, dass viel Aufheben um ein Thema gemacht wird, das eigentlich völlig unspektakulär ist.
Sobald viele die Worte „Strahlung“ oder „Radioaktivität“ hören, gehen schon die Alarmglocken los. Und 20 µSv/h (Mikrosievert pro Stunde) am Rückglas einer Linse hören sich vielleicht auch viel an, wenn ein Geigerzähler sonst in der Umgebung um die 0,1-0,2 µSv/h misst. Doch die Zahlen bleiben ungreifbar abstrakt (und vielleicht auch bedrohlich), wenn man sie nicht in Relation setzt. Damit diese Informationen auch wirklich fundiert sind, habe ich mir dafür fachliche Beratung durch Dr. Jens Dischinger geholt, dem Leiter des Strahlenschutzseminars an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Diesen Beitrag kann man sich übrigens auch als Podcast-Folge anhören oder einfach nach dem Player-Feld weiterlesen …

Immer wieder brandet im Netz die Diskussion auf – sind radioaktive Objektive nun gefährlich oder nicht? Die Bandbreite der Einschätzungen, denen man da begegnet, ist beträchtlich. Also war es für mich an der Zeit, mal einen Experten von der Uni Kiel zu befragen.
Diese Podcast-Episode gibt es – mit Bildmaterial – auch bei mir im Blog nachzulesen: https://www.schlicksbier.com/sind-radioaktive-objektive-gefaehrlich
Links zur Sendung:
Mehr über die Einheit Mikrosievert: https://de.wikipedia.org/wiki/Sievert_(Einheit)
Zerfallsreihe von Thorium: https://www.chemie.de/lexikon/Thorium-Reihe.html
Bundesamt für Strahlenschutz: https://www.bfs.de/DE/home/home_node.html
Liste radioaktiver Objektive: https://camerapedia.fandom.com/wiki/Radioactive_lenses und http://camera-wiki.org/wiki/radioactive_lenses
Günstiges und gutes Messgerät für Radioaktivität: https://amzn.to/3A1jRdm
UV-Lampe: https://amzn.to/3UrzeTp
Shownotes und Diskussionsmöglichkeiten auch immer auf https://studio.kreativkommune.org/podcast
Weitere Podcasts von Erik: https://www.schlicksbier.com/podcast

Warum sind manche Objektive radioaktiv?
Fangen wir erstmal grundsätzlich an, wie es überhaupt zu radioaktiven Objektiven gekommen ist. Der „Schuldige“ an der Radioaktivität der Linse ist in gewisser Weise das Thorium-Oxid, das zwischen den 40er und 70er Jahren manchen Gläsern hinzugefügt wurde, um einen hohen Brechungsindex des Glases bei gleichzeitig geringer Dispersion zu erreichen. Oder vereinfacht: Die optische Leistung lichtstarker Gläser sollte deutlich verbessert werden und das Mittel der Wahl war damals das Thorium-Oxid. Thorium hat eine derart gigantische Halbwertzeit, dass man früher noch dachte, es sei ein stabiles Element, inzwischen ist aber die gesamte Zerfallsreihe bekannt. Ich habe ein paar Sätze zuvor den Passus „in gewisser Weise“ betont, da Thorium ein α-Strahler ist, der an sich völlig belanglos wäre (sofern sich die α-Strahlung außerhalb des Körpers befindet). α-Strahlung wird schon durch ein Blatt Papier abgeschirmt und wäre bereits in kürzester Entfernung nicht mehr zu messen. Hier kommt das photometrische Entfernungsgesetz wieder ins Spiel, da es ein Abstandsgesetz ist, das sich auf alle Art der Strahlung bezieht. Licht ist nichts weiter als (sichtbare) Strahlung. Was da für die Fotografie gilt, gilt also auch für den unsichtbaren Teil der Röntgenstrahlung: Die Intensität nimmt im Abstand zum Quadrat ab. Dr. Dischinger hat mit einem Messgerät speziell für α-Strahlung auch noch mal die Rücklinse des „legendären“ Strahlen-Objektivs Kodak Aero-Ektar gemessen und festgestellt, dass so gut wie keine α-Strahlung aus dem Objektiv austritt. Würde man es hinten abwischen – man hätte keine nachweisbaren Partikel.

Messung von α-Strahlung am Kodak Aero-Ektar
Warum ist also dann selbst durch Rückdeckel oder durch den Koffer von Objektiven noch immer deutliche Strahlung zu messen?

Geschlossener Peli-Case mit einem Kodak Aero-Ektar innen
Weil es sich um einen γ-Strahler handeln muss. β-Strahlung wäre durch das Plastik schon abgeschirmt worden. Dr. Dischinger konnte mit einem Messgerät auch die Quelle ausmachen: Blei-212, das eins der Produkte in der Zerfallskette von Thorium ist.

Spektrometer-Analyse vom Kodak Aero-Ektar
Wir wissen nun also, dass Thorium durch seinen Zerfall nicht nur die Eigenschaft von Materialien beeinflusst (und so zu einer Vergilbung des Glases über die Zeit führt, die durch UV-Strahlung zum allergrößten Teil reversibel ist), sondern auch deutlich stärkere γ-Strahlung absondert.

Gesamtstrahlung eines Kodak Aero-Ektar direkt auf der Hinterlinse
Sind diese Werte gefährlich?
Um diese einordnen zu können ist eine der ersten Fragen wo gemessen wird. Die meisten Messwerte, die durchs Internet geistern, sind direkt auf dem Thorium-Glas gemessen worden (im Falle des Ashai Pentax Super-Takumar 1.4/50 knapp 7 µSv/h) – doch keiner nutzt ein Objektiv auf diese Weise.

Strahlungswert des Ashai Pentax Super-Takumar 1.4/50
Relevant für den Umgang ist (neben der Lagerung, zu der wir noch kommen) die Strahlung bei der tatsächlichen Art der Benutzung. Also wie viel Strahlung kommt beim Auge an, wenn es durch den Sucher der Kamera schaut, an die ein radioaktives Objektiv adaptiert ist. Im Falle des angesprochenen Super-Takumars sind das statt der zuvor gemessenen 7 µSv/h plötzlich nur noch 0,48 µSv/h. Ein exorbitanter Unterschied.

Strahlung hinten am Okular, wenn vorne ein Ashai Pentax Super-Takumar 1.4/50 angesetzt ist
Noch sind diese Zahlen aber noch immer abstrakt. Um wirklich abschätzen zu können, was 0,5 µSv/h bedeuten, muss man sich Vergleichszahlen vergegenwärtigen.
Wir sind die ganze Zeit von Strahlung umgeben. Kosmische Strahlung, terrestrische Strahlung (Radionuklide wie Thorium, Uran, Kalium u.a., sowie deren Zerfallsprodukte kommen auch ganz natürlich vor) und inkorporierte natürliche Radioaktivität durch Nahrung, Wasser etc. (Thorium beispielsweise findet sich auch in unseren Knochen). Ein Mensch strahlt ca. 300 µSv pro Jahr ab. Bedeutende Strahlung bekommen wir auch durch Radon ab, das ein Zerfallsprodukt von Uran ist, sich gasförmig in der Erde befindet und sich daher besonders in Kellerräumen älterer Häuser sammelt, deren Kellerräume weniger gut gegen Feuchtigkeit gedämmt sind und auch keine Be- und Entlüftungsanlage haben. Hier in unserer Region ist zum Beispiel Flintbek ein Radon-Hotspot, aber ganz Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und nördliches Niedersachsen befinden sich trotzdem unter den Grenzwerten von 300 Becquerel pro Kubikmeter. Wer mehr Informationen über Radon haben möchte, findet sie hier. Auf der Seite des Bundesamtes für Strahlenschutz finden sich auch Informationen über die unterschiedliche Verteilung der terrestrischen Strahlung. So ist die Strahlenbelastung von Gebirgsregionen mit Granitformationen beispielsweise deutlich höher als im norddeutschen Flachland.
Wenn wir die ganzen Werte mitteln, kann man sagen, dass wir durch diese Form der natürlichen Strahlung bereits 6 µSv pro Tag abbekommen. Wenn wir Flugreisen unternehmen, also höher in der Luft sind, sind wir mehr der kosmischen Strahlung ausgesetzt, was dazu führt, dass Flugreisen – je nach Route – noch mal ca. 4-6 µSv pro Stunde(!) hinzufügen.
Für die Einordnung ist aber ein besonderer Sachverhalt noch wichtig. Die Strahlung während des Fluges wirkt auf den ganzen Körper. Von einer radioaktiven Linse wird bei der Benutzung allerdings nur der Kopf (Haut, Knochen und Gehirn) getroffen. Wenn wir jetzt diese „effektive Dosis“ als Basis nehmen (Details dazu würden jetzt den Umfang dieses Beitrags sprengen), dann entspräche ein vierstündiger Flug auf die Kanaren 1300 Stunden ununterbrochenem Arbeiten mit einem Fotoapparat direkt vor dem Auge wäre, wenn dieser Fotoapparat so ein Super-Takumar vorne dran hätte. 100 Stunden mit dem angesprochenen Fotoapparat direkt vor dem Auge entsprechen dem Rauchen einer Zigarette, die mit 1,5 µSv pro Stück zu Buche schlägt (da man sich hier α-Strahlung direkt in den Körper befördert).
Also: Keine Panik!
Der Grenzwert für die berufliche Strahlungs-Exposition (zusätzlich zu unserer normalen Umgebungsstrahlung) liegt bei 20.000 µSv pro Jahr, der Grenzwert für die zusätzliche Strahlenbelastung (neben der natürlichen) für die normale Bevölkerung liegt bei 1000 µSv. Selbst wenn wir unser Auge das ganze Jahr ununterbrochen nicht mehr von der Kamera nehmen würden, würden wir all diese Grenzwerte bei weitem nicht erreichen (sondern lägen bei 4380 µSv Teilkörper-Dosis, die ca. 130 µSv Ganzkörper-Dosis entspricht).
In der Realität bekommen die meisten Berufstätigen natürlich viel weniger Strahlung ab. Ein Arzt kommt im Durchschnitt auf zusätzliche 100 µSv pro Jahr, ein Arbeiter in einem Kernkraftwerk auf 300 µSv pro Jahr und Flugpersonal auf 3000 µSv pro Jahr. Ein weiterer Fun-Fact in diesem Zusammenhang: Ein Ganzkörper-CT (beispielsweise nach einem Polytrauma) schlägt mit satten 15.000 µSv auf Patientenseite zu Buche.
Ich möchte Strahlung nicht Bagatellisieren. Natürlich ist weniger immer besser, zumal tatsächlich noch immer niemand weiß, ob und wenn ja, was Strahlenbelastungen unter 100.000 µSv pro Jahr im menschlichen Körper auslösen. Erst ab ca. 100.000 µSv pro Jahr sind Veränderungen z.B. im Blutbild zu sehen. Für das, was unter dieser Schwelle geschieht, gibt es drei große, sich widersprechende Theorien, für die es kurioserweise alle Belege gibt (lineares Wachstum des Risikos, Wachstum erst nach einer bestimmten Grunddosis, „Verbesserung“ bei geringer Strahlenbelastung und erst danach Anstieg des Risikos). Aber es ist nichts gesichert messbar. Mit den an der Kamera gemessenen 0,5 µSv/h sind wir aber – wie in diesem Artikel dargelegt – derartig gigantisch unter jeglichen problematischen Werten, dass das Risiko in der normalen Anwendung absolut Vernachlässigens wert ist. Trotzdem ist es sinnvoll, bei der Lagerung dann die Exposition zu vermindern. Also, auch wenn es Euer Lieblingsobjektiv ist – kuschelt damit nicht jede Nacht oder legt es Euch nicht unter das Kopfkissen. Leckt oder gar nagt nicht die Hinterlinse an. Schleifendes Polieren dieses Glases ist auch nicht sinnvoll. Haltet Euch nicht unbedingt die Linse direkt ans Auge. Und ansonsten? Nutzt sie einfach dafür, wofür sie intendiert war. Wem das nach diesem Beitrag noch immer zu heiß sein sollte, darf die Linse natürlich auch gerne kostenfrei an die Impressum angegebene Adresse entsorgen …
Messgeräte für zu Hause
Zum Abschluss noch ein Wort zu den Messgeräten. Wenn man für sich herausfinden möchte, welche Objektive in der eigenen Sammlung ggf. radioaktiv ist (zwar gibt es hier und hier Listen, die aber nicht vollständig sind; zudem ist es teilweise davon abhängig, wann die jeweilige Linse gebaut worden ist), dann muss es nicht das teuerste Gerät sein. Ich habe mit diesem Gerät unter 100 € gute Erfahrung gemacht (ist ein Amazon-Partnerlink). Man darf bei all diesen Geräten nicht vergessen, dass selbst die extrem teuren Profi-Geräte eine Fehlertoleranz von bis zu 30% haben.

Umgebungsstrahlung zu Hause
Wie wir in dem Text gesehen haben, ist es jetzt für die Praxis auch völlig irrelevant, ob da jetzt ein paar Mikrosivert Unterschied in den Messergebnissen vorliegen. Das genannte Gerät zeigt eine hier plausible Umgebungsstrahlung von 0,1 µSv/h und bei den Linsen eher leicht höhere Werte als das Messgerät aus der Uni an. Und in dem Bereich lieber zu hoch als zu wenig anzeigen. Zum Identifizieren der radioaktiven Objektive taugt es auf jeden Fall hervorragend.

Was mein Messgerät auf dem Aero-Ektar misst
Wer der Vergilbung der Linsen entgegenwirken will, muss zu UV-Licht greifen. Manche nehmen die Sonne, andere ihren UV-Belichter, den sie für Edeldrucke haben. Angeblich sollen auch diese Nagellampen bei Amazon gut helfen – zumindest haben sie einen derart verträglichen Preis, dass man es getrost mal ausprobieren kann.
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Vielen Dank für die sachliche und umfassende Erklärung!
LG. Ludger